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Ich hätte den Kerl richtig beleidigen, ihn fragen sollen, ob er seine eigene Frau schon vergewaltigt, den Grand mit zweien gewonnen und im Amt mit seinen Kollegen den obligatorischen zweistündigen Plausch über den Krieg schon hinter sich habe. Er hatte die Stimme eines richtigen Eheherrn und aufrechten deutschen Menschen gehabt, und sein »Na, endlich« hatte geklungen wie »Legt an«. Sabine Emonds' Stimme hatte mich etwas getröstet, sie hatte ein bißchen gereizt geklungen, auch gehetzt, aber ich wußte, daß sie Maries Handlungsweise wirklich gemein fand und das Töpfchen Suppe bei ihr immer für mich auf dem Herd stand. Sie war eine sehr gute Köchin, und wenn sie nicht schwanger war und dauernd die »Ach-ihr-Männer-Blicke« um sich warf, war sie sehr munter und auf eine viel nettere Art katholisch als Karl, der über das »Sextum« seine merkwürdigen Seminaristenvorstellungen behalten hatte. Sabines vorwurfsvolle Blicke galten wirklich dem ganzen Geschlecht, sie nahmen nur, wenn sie Karl, den Urheber ihres Zustandes, anblickte, eine besonders dunkle Färbung an, fast gewitterhaft. Ich hatte meistens versucht, Sabine abzulenken, ich führte eine meiner Nummern vor, dann mußte sie lachen, lange und herzlich, bis sie anfing, Tränen zu lachen, dann blieb sie meistens in den Tränen hängen, und es war kein Lachen mehr drin ... Und Marie mußte sie hinausbringen und sie trösten, während Karl mit finsterer, schuldbewußter Miene bei mir saß und schließlich vor Verzweiflung anfing, Hefte zu korrigieren. Manchmal half ich ihm dabei, indem ich die Fehler mit einem roten Tintenkuli anstrich, aber er traute mir nie, sah alles noch einmal durch und war jedesmal wütend, weil ich nichts übersehen und die Fehler ganz korrekt angestrichen hatte. Er konnte sich gar nicht vorstellen, daß ich eine solche Arbeit selbstverständlich fair und in seinem Sinn erledigen würde.

Karls Problem ist nur ein Geldproblem. Wenn Karl Emonds

eine Siebenzimmerwohnung hätte, wäre die Gereiztheit, das Gehetztsein nicht mehr unumgänglich. Ich hatte mich mit Kinkel einmal über seinen Begriff

»Existenzminimum« gestritten. Kinkel galt als einer der genialen Spezialisten für sol- che Themen, und er war es, glaube ich, der das Existenzminimum für eine alleinstehende Person in einer Großstadt, die Miete nicht gerechnet, auf vierundachtzig, später auf sechsundachtzig Mark berechnen ließ. Ich kam ihm schon gar nicht mit dem Einwand, daß er selbst, nach der ekelhaften Anekdote zu urteilen, die er uns erzählt hatte, offenbar das fünfunddreißigfache davon für sein Existenzminimum hielt. Solche Einwände gelten ja als zu persönlich und geschmack- los, aber das Geschmacklose liegt darin, daß so einer anderen ihr Existenzminimum vorrechnet. In dem Betrag von sechsundachtzig Mark war sogar ein Betrag für kulturelle Bedürfnisse eingeplant: Kino wahrscheinlich, oder Zeitungen, und als ich Kinkel fragte, ob sie erwarteten, daß sich der Betreffende für dieses Geld einen guten Film anschaue, einen mit volkserzieherischem Wert - wurde er wütend, und als ich ihn fragte, wie der Posten »Erneuerung des Wäschebestandes« zu verstehen sei, ob sie vom Ministerium extra einen gutmütigen alten Mann anheuern, der durch Bonn rennt und seine Unterhose verschleißt und dem Ministerium berichtet, wie lange er braucht, bis die Unterhose verschlissen ist - da sagte seine Frau, ich sei auf eine gefährliche Weise subjektiv, und ich sagte ihr, ich könnte mir etwas darunter vorstellen, wenn Kommunisten anfingen zu planen, mit Modellmahlzeiten, Verschleißzeiten für Taschentücher und diesem Unsinn, schließlich hätten Kommunisten nicht das heuchlerische Alibi Übernatur, aber daß Christen wie ihr Mann sich zu solch einem anmaßenden Wahnsinn hergäben, fände ich unglaublich - da sagte sie, ich sei eben ein kompletter Materialist und hätte kein Verständnis für Opfer, Leid, Schicksal, Größe der Armut. Bei Karl Emonds habe ich nie den Eindruck von Opfer, Leid, Schicksal,

Größe der Armut. Er verdient ganz gut, und alles, was sich von Schicksal und Größe

zeigte, war eine ständige Gereiztheit, weil er sich ausrechnen konnte, daß er nie eine für ihn angemessene Wohnung würde bezahlen können. Als mir klar wurde, daß ausgerechnet Karl Emonds der einzige war, den ich um Geld angehen konnte, wurde mir meine Situation klar. Ich besaß keinen Pfennig mehr.

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Ich wußte auch, daß ich das alles nicht tun würde: nach Rom fahren und mit dem Papst sprechen oder morgen nachmittag bei Mutters jour fixe Zigaretten und Zigarren klauen, Erdnüsse in die Tasche stecken. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, daran zu glauben wie an das Holzdurchsägen mit Leo. Jeder Versuch, die Marionettenfäden wieder zu knüpfen und mich daran hochzuziehen, würde scheitern. Irgendwann würde ich soweit sein, daß ich Kinkel anpumpte, auch Sommerwild und sogar diesen Sadisten Fredebeul, der mir wahrscheinlich ein Fünfmarkstück vor die Nase halten und mich zwingen würde, danach zu springen. Ich würde froh sein, wenn mich Monika Silvs zum Kaffee einlud, nicht, weil es Monika Silvs war, sondern wegen des kostenlosen Kaffees. Ich würde die dumme Bela Brosen noch einmal anrufen, mich bei ihr einschmeicheln und ihr sagen, daß ich nicht mehr nach der Höhe der Summe fragen würde, daß jede, jede Summe mir willkommen wäre, dann - eines Tages würde ich zu Sommerwild gehen, ihm »überzeugend« dartun, daß ich reumütig, einsichtig sei, reif zu konvertieren, und dann würde das Fürchterlichste kommen: eine von Sommerwild inszenierte Versöhnung mit Marie und Züpfner, aber wenn ich konvertierte, würde mein Vater wahrscheinlich gar nichts mehr für mich tun. Offenbar wäre das für ihn das Schrecklichste. Ich mußte mir die Sache überlegen: meine Wahl war nicht rouge et noir, sondern dunkelbraun oder schwarz: Braunkohle oder Kirche. Ich würde werden, was sie alle von mir schon so lange erwarteten: ein Mann, reif, nicht mehr subjektiv, sondern objektiv und bereit, in der Herren-Union einen deftigen Skat zu dreschen. Ich hatte noch ein paar Chancen: Leo, Heinrich Behlen, Großvater, Zohnerer, der mich vielleicht als Schmalz-guitarristen aufbauen würde, ich würde singen: »Wenn der Wind in deinen Haaren spielt, weiß ich, du bist

mein.« Ich hatte es Marie schon vorgesungen, und sie hatte sich die

Ohren zugehalten und mir gesagt, sie fände es scheußlich. Schließlich würde ich das allerletzte tun: zu den Kommunisten gehen und ihnen all die Nummern vorführen, die sie so hübsch als antikapitalistisch einstufen konnten.

Ich war tatsächlich einmal hingefahren und hatte mich mit irgendwelchen Kulturfritzen in Erfurt getroffen. Sie empfingen mich mit ziemlichem Pomp am Bahnhof, Riesenblumensträuße, und im Hotel gab es anschließend Forelle blau, Ka- viar, Halbgefrorenes und Unmengen von Sekt. Dann fragten sie uns, was wir denn von Erfurt sehen möchten. Ich sagte, ich würde gern die Stelle sehen, wo Luther seine Doktordisputation gehalten habe, und Marie sagte, sie habe gehört, es gebe in Erfurt eine katholisch-theologische Fakultät, sie interessiere sich für das religiöse Leben. Sie machten saure Gesichter, konnten aber nichts machen, und es wurde alles sehr peinlich: für die Kulturfritzen, für die Theologen und für uns. Die Theologen mußten ja meinen, wir hätten irgend etwas mit diesen Idioten zu tun, und keiner sprach offen mit Marie, auch als sie sich über Glaubensfragen mit einem Professor unterhielt. Der merkte irgendwie, daß Marie nicht richtig mit mir verheiratet war. Er fragte sie in Gegenwart der Funktionäre: »Aber Sie sind doch wirklich Katholikin«, und sie wurde schamrot und sagte: »Ja, auch wenn ich in der Sünde lebe, bleibe ich ja katholisch.« Es wurde scheußlich, als wir merkten, daß auch den Funktionären unser Nicht-verheiratetsein gar nicht gefiel, und als wir dann zum Kaffee ins Hotel zurückgingen, fing einer der Funktionäre davon an, daß es bestimmte Erscheinungsformen kleinbürgerlicher Anarchie gebe, die er gar nicht billige. Dann fragten sie mich, was ich vorführen wolle, in Leipzig, in Rostock, ob ich nicht den

»Kardinal«, »Ankunft in Bonn« und »Aufsichtsratssitzung« vorführen könne. (Woher sie vom Kardinal wußten, haben wir nie herausgekriegt, denn diese Nummer hatte ich für mich allein einstudiert, sie nur Marie gezeigt, und die hatte mich gebeten,

sie doch nicht aufzuführen, Kardinale trügen nun einmal Märtyrerrot.) Und ich

müsse erst die Lebensbedingungen hier ein wenig studieren, denn der Sinn der Komik läge darin, den Menschen in abstrakter Form Situationen vorzuführen, die ihrer eigenen Wirklichkeit entnommen seien, nicht einer fremden, und es gäbe ja in ihrem Land weder Bonn noch Aufsichtsräte, noch Kardinale. Sie wurden unruhig, einer wurde sogar blaß und sagte, sie hätten sich das anders vorgestellt, und ich sagte, ich auch. Es war scheußlich. Ich sagte, ich könnte ja ein bißchen studieren und eine Nummer wie »Sitzung des Kreiskomitees« vorführen oder »Der Kulturrat tritt zusammen«, oder »Der Parteitag wählt sein Präsidium« - oder »Erfurt, die Blumenstadt«; es sah gerade um den Erfurter Bahnhof herum nach allem anderen, nur nicht nach Blumen aus - aber da stand der Hauptmacher auf, sagte, sie könnten doch keine Propaganda gegen die Arbeiterklasse dulden. Er war schon nicht mehr blaß, sondern richtig bleich - ein paar andere waren wenigstens so mutig, zu grinsen. Ich erwiderte ihm, ich sähe keine Propaganda gegen die Arbeiterklasse darin, wenn ich etwa eine leicht einzustudierende Nummer wie »Der Parteitag wählt sein Präsidium« vorführte, und ich machte den dummen Fehler, Bardeidag zu sagen, da wurde der bleiche Fanatiker wild, schlug auf den Tisch, so heftig, daß mir die Schlagsahne vom Kuchen auf den Teller rutschte, und sagte: »Wir haben uns in Ihnen getäuscht, getäuscht«, und ich sagte, dann könnte ich ja abfahren, und er sagte: »Ja, das können Sie - bitte, mit dem nächsten Zug.« Ich sagte noch, ich könnte ja die Nummer Aufsichtsrat einfach Sitzung des Kreiskomitees nennen, denn da würden ja wohl auch nur Sachen beschlossen, die vorher schon beschlossene Sache gewesen wären. Da wurden sie regelrecht unhöflich, verließen das Sälchen, bezahlten nicht einmal den Kaffee für uns. Marie weinte, ich war nahe daran, irgend jemand zu ohrfeigen, und als wir dann zum Bahnhof hinübergingen, um mit dem nächsten Zug zurückzufahren, war weder ein Gepäckträger noch ein Boy aufzutreiben, und wir mußten eigenhändig

unsere Koffer schleppen, etwas, was ich hasse. Zum Glück begeg-

nete uns auf dem Bahnhofsvorplatz einer von den jungen Theologen, mit denen Marie am Morgen gesprochen hatte. Er wurde rot, als er uns sah, nahm aber der weinenden Marie den schweren Koffer aus der Hand, und Marie flüsterte die ganze Zeit über auf ihn ein, er solle sich doch nicht in Schwierigkeiten bringen.

Es war scheußlich. Wir waren im ganzen nur sechs oder sieben Stunden in Erfurt gewesen, aber wir hatten es mit allen verdorben: mit den Theologen und mit den Funktionären.

Als wir in Bebra ausstiegen und in ein Hotel gingen, weinte Marie die ganze Nacht, schrieb morgens einen langen Brief an den Theologen, aber wir erfuhren nie, ob er ihn wirklich bekommen hat.


Ich hatte geglaubt, mich mit Marie und Züpfner zu versöhnen, würde das letzte sein, aber mich dem blassen Fanatiker auszuliefern und denen da den Kardinal vorzuführen, würde doch das aller- allerletzte sein. Ich hatte immer noch Leo, Heinrich Behlen, Monika Silvs, Zohnerer, Großvater und das Töpfchen Suppe bei Sabine Emonds, und ich konnte mir wohl ein bißchen Geld verdienen, indem ich auf Kinder aufpaßte. Ich würde mich schriftlich verpflichten, den Kindern keine Eier zu geben. Offenbar war das für eine deutsche Mutter unerträglich. Was andere die objektive Wichtigkeit der Kunst nennen, ist mir schnuppe, aber wo es gar keine Aufsichtsräte gibt, über Aufsichtsräte zu spotten, das würde mir gemein vorkommen.

Ich hatte einmal eine ziemlich lange Nummer »Der General« einstudiert, lange daran gearbeitet, und als ich sie aufführte, wurde es das, was man in unseren Kreisen einen Erfolg nennt: d. h. die richtigen Leute lachten, und die richtigen ärgerten sich. Als ich nach dem Auftritt mit stolzgeschwellter Brust in die Garderobe ging, wartete eine alte, sehr kleine Frau auf mich. Ich bin nach den Auftritten immer gereizt, vertrage nur Marie um mich, aber Marie hatte die alte Frau in meine Garderobe

gelassen. Die fing an zu reden,

bevor ich noch richtig die Tür zugemacht hatte, und erklärte mir, ihr Mann sei auch General gewesen, er wäre gefallen und hätte ihr vorher noch einen Brief geschrieben und sie gebeten, keine Pension anzunehmen. »Sie sind noch sehr jung«, sagte sie,

»aber doch alt genug, zu verstehen« - und dann ging sie raus. Ich konnte von da ab die Nummer General nie mehr aufführen. Die Presse, die sich Linkspresse nennt, schrieb daraufhin, ich habe mich offenbar von der Reaktion einschüchtern lassen, die Presse, die sich Rechtspresse nennt, schrieb, ich hätte wohl eingesehen, daß ich dem Osten in die Hand spiele, und die unabhängige Presse schrieb, ich habe offensichtlich jeglicher Radikalität und dem Engagement abgeschworen. Alles kompletter Schwachsinn. Ich konnte die Nummer nicht mehr vorführen, weil ich immer an die alte kleine Frau denken mußte, die sich wahrscheinlich, von allen verlacht und verspottet, kümmerlich durchschlug. Wenn mir eine Sache keinen Spaß mehr macht, höre ich damit auf - das einem Journalisten zu erklären, ist wahrscheinlich viel zu kompliziert. Sie müssen immer etwas »wittern«, »in der Nase haben«, und es gibt den weitverbreiteten hämischen Typ des Journalisten, der nie drüber kommt, daß er selbst kein Künstler ist und nicht einmal das Zeug zu einem künstlerischen Menschen hat. Da versagt dann natürlich die Witterung, und es wird geschwafelt, möglichst in Gegenwart hübscher junger Mädchen, die noch naiv genug sind, jeden Schmierfink anzuhimmeln, nur, weil er in einer Zeitung sein »Forum« hat und »Einfluß«. Es gibt merkwürdige unerkannte Formen der Prostitution, mit denen verglichen die eigentliche Prostitution ein redliches Gewerbe ist: da wird wenigstens fürs Geld was geboten.

Selbst dieser Weg, mich von der Barmherzigkeit käuflicher Liebe erlösen zu lassen, war mir verschlossen: ich hatte kein Geld. Inzwischen probierte Marie in ihrem römischen Hotel ihre spanische Mantilla an, um als first lady des deutschen

Katholizismus standesgemäß zu repräsentieren. Nach Bonn zurückgekehrt, würde sie

legenheit Tee trinken, lächeln, Komitees beitreten, Ausstellungen »religiöser Kunst« eröffnen und sich nach einer »angemessenen Schneiderin umschauen«. Alle Frauen, die amtlich nach Bonn heirateten, »schauten sich nach angemessenen Schneiderinnen um«.

Marie als first lady des deutschen Katholizismus, mit der Teetasse oder dem Cocktailglas in der Hand: »Haben Sie den süßen kleinen Kardinal schon gesehen, der morgen die von Krögert entworfene Mariensäule einweiht? Ach, in Italien sind offenbar sogar die Kardinale Kavaliere. Einfach süß.«

Ich konnte nicht einmal mehr richtig humpeln, wirklich nur noch kriechen, ich kroch auf den Balkon hinaus, um etwas Heimatluft zu atmen: auch sie half nichts. Ich war schon zu lange in Bonn, fast zwei Stunden, und nach dieser Frist ist die Bonner Luft als Luftveränderung keine Wohltat mehr.

Es fiel mir ein, daß sie es eigentlich mir verdanken, daß Marie katholisch geblieben ist. Sie hatte fürchterliche Glaubenskrisen, aus Enttäuschungen über Kinkel, auch über Sommerwild, und ein Kerl wie Blothert hätte wahrscheinlich sogar den Heiligen Franziskus zum Atheisten gemacht. Sie ging eine Zeitlang nicht einmal mehr zur Kirche, dachte gar nicht daran, sich mit mir kirchlich trauen zu lassen, sie verfiel in eine Art Trotz und ging erst drei Jahre, nachdem wir aus Bonn weg waren, in den Kreis, obwohl die sie dauernd einluden. Ich sagte ihr damals, Enttäuschung sei kein Grund. Wenn sie die Sache als solche für wahr hielte - könnten tausend Fredebeuls sie nicht unwahr machen, und schließlich - so sagte ich - gebe es ja doch Züpfner, den ich zwar ein bißchen steif fände, gar nicht mein Typ, aber als Katholiken glaubwürdig. Es gäbe sicher viele glaubwürdige Katholiken, ich zählte ihr Pastore auf, deren Predigten ich mir mitangehört hatte, ich erinnerte sie an den Papst, Gary Cooper, Alec Guinness

  • und sie rankte sich an Papst Johannes und Züpfner wieder hoch.


  • Merkwürdigerweise zog Heinrich Behlen um diese Zeit schon nicht mehr, im

    fing, so daß ich den Verdacht bekam, er könne sich ihr »genähert« haben. Ich fragte sie nie danach, aber mein Verdacht war groß, und wenn ich mir Heinrichs Haushälterin vorstellte, konnte ich verstehen, daß er sich Mädchen »näherte«. Mir war der Gedanke daran widerwärtig, aber ich konnte es verstehen, so wie ich manche widerwärtigen Sachen, die im Internat passierten, verstand.

    Es fiel mir jetzt erst ein, daß ich es gewesen war, der ihr Papst Johannes und Züpfner als Trost bei Glaubenszweifeln angeboten hatte. Ich hatte mich vollkommen fair dem Katholizismus gegenüber verhalten, genau das war falsch gewesen, aber für mich war Marie auf eine so natürliche Weise katholisch, daß ich ihr diese Natur zu erhalten sann. Ich weckte sie, wenn sie sich verschlief, damit sie rechtzeitig zur Kirche kam. Oft genug habe ich ihr ein Taxi spendiert, damit sie pünktlich kam, ich habe für sie herumtelefoniert, wenn wir in evangelischen Gegenden waren, um eine Heilige Messe für sie aufzutreiben, und sie hat immer gesagt, das fände sie »besonders« lieb, aber dann sollte ich diesen verfluchten Zettel unterschreiben, schriftlich geben, daß ich die Kinder katholisch erziehen lassen würde. Wir hatten oft über unsere Kinder gesprochen. Ich hatte mich sehr auf Kinder gefreut, mich schon mit meinen Kindern unterhalten, ich hatte sie schon auf dem Arm gehalten, ihnen rohe Eier in die Milch geschlagen, mich beunruhigte nur die Tatsache, daß wir in Hotels wohnen würden, und in Hotels werden meistens nur die Kinder von Millionären oder Königen gut behandelt. Den Kindern von Nichtkönigen oder Nichtmillionären, jedenfalls den Jungen, wird zuerst einmal zugebrüllt: »Du bist hier nicht zu Hause«, eine dreifache Unterstellung, weil vorausgesetzt wird, daß man sich zu Hause wie ein Schwein benimmt, daß man sich nur wohlfühlt, wenn man sich wie ein Schwein benimmt, und daß man sich als Kind um keinen Preis wohlfühlen soll. Mädchen haben immer die Chance, als »süß« betrachtet und gut behandelt zu werden, aber Jungen werden

    zunächst angeschnauzt, wenn die Eltern nicht dabei sind. Für die Deutschen

    ist ja jeder Junge ein ungezogenes Kind, das nie ausgesprochene Adjektiv ungezogen ist einfach mit dem Substantiv verschmolzen. Würde einer auf die Idee kommen, das Vokabularium, das die meisten Eltern im Gespräch mit ihren Kindern verwenden, einmal zu testen, würde er feststellen, daß das Vokabularium der Bild-Zeitung, damit verglichen, fast das Wörterbuch der Brüder Grimm wäre. Es wird nicht mehr lange dauern, und deutsche Eltern werden mit ihren Kindern nur noch in der Kalick- Sprache sprechen: Oh, wie hübsch und Oh, wie scheußlich; hin und wieder werden sie sich zu differenzierten Äußerungen wie »Keine Widerrede« oder »Davon verstehst du nichts« entschließen. Mit Marie habe ich sogar schon darüber gesprochen, was wir unseren Kindern anziehen würden, sie war für »helle, flott geschnittene Regenmäntel«, ich für Anoraks, weil ich mir vorstellte, daß ein Kind in einem hellen, flottgeschnittenen Regenmantel nicht in einer Pfütze spielen könnte, während ein Anorak fürs Spielen in der Pfütze günstig wäre, sie - ich dachte immer zunächst an ein Mädchen - wäre warm angezogen und hätte doch die Beine frei, und wenn sie Steine in die Pfütze warf, würden die Spritzer nicht unbedingt den Mantel, möglicherweise nur die Beine treffen, und wenn sie mit einer Blechbüchse die Pfütze ausschöpfte und das schmutzige Wasser vielleicht schief aus der Büchse herauslaufen ließ, brauchte es nicht unbedingt den Mantel zu treffen, jedenfalls war die Chance, daß sie sich nur die Beine beschmutzte, größer. Marie war der Meinung, daß sie sich in einem hellen Regenmantel eben mehr in acht nehmen würde, die Frage, ob unsere Kinder wirklich in Pfützen würden spielen dürfen, wurde nie grundsätzlich geklärt. Marie lächelte nur immer, wich aus und sagte: Wir wollen mal abwarten.

    Wenn sie mit Züpfner Kinder haben sollte, könnte sie ihnen weder Anoraks anziehen noch flottgeschnittene, helle Regenmäntel, sie mußte ihre Kinder ohne Mantel laufen lassen, denn wir hatten über alle Mantelsorten ausgiebig gesprochen. Wir hatten auch

    über lange und kurze Unterhosen, Wäsche,

    Socken, Schuhe gesprochen - sie mußte ihre Kinder nackt durch Bonn laufen lassen, wenn sie sich nicht als Hure oder Verräterin fühlen wollte. Ich wußte auch gar nicht, was sie ihren Kindern zu essen geben wollte: wir hatten alle Nahrungssorten, alle Ernährungsmethoden durchgesprochen, waren uns einig gewesen, daß wir keine Stopfkinder haben würden, Kinder, in die dauernd Brei oder Milch hineingestopft oder hineingeschüttet wird. Ich wollte nicht, daß meine Kinder zum Essen gezwungen würden, es hatte mich angeekelt, wenn ich zusah, wie Sabine Emonds ihre ersten beiden Kinder, besonders das älteste, das Karl seltsamerweise Edeltrud genannt hatte, stopfte. Über die leidige Eierfrage hatte ich mich sogar mit Marie gestritten, sie war gegen Eier, und als wir uns darüber stritten, sagte sie, das sei Reicheleutekost, war dann rot geworden, und ich hatte sie trösten müssen. Ich war daran gewöhnt, anders als andere behandelt und betrachtet zu werden, nur, weil ich von den Braunkohlenschniers abstamme, und Marie war es nur zweimal passiert, daß sie etwas Dummes darüber sagte: am ersten Tag, als ich zu ihr in die Küche runterkam, und als wir über Eier sprachen. Es ist scheußlich, reiche Eltern zu haben, besonders scheußlich natürlich, wenn man von dem Reichtum nie etwas gehabt hat. Eier hatte es bei uns zu Hause sehr selten gegeben, meine Mutter hielt Eier für »ausgesprochen schädlich«. Bei Edgar Wieneken war es im umgekehrten Sinn peinlich, er wurde überall als Arbeiterkind eingeführt und vorgestellt; es gab sogar Priester, die, wenn sie ihn vorstellten, sagten: »Ein waschechtes Arbeiterkind«, das klang so, als wenn sie gesagt hätten: Seht mal, der hat gar keine Hörner und sieht ganz intelligent aus. Es ist eine Rassenfrage, um die sich Mutters Zentralkomitee einmal kümmern sollte. Die einzigen Menschen, die in diesem Punkt unbefangen zu mir waren, waren Wienekens und Maries Vater. Sie kreideten es mir nicht an, daß ich von den Braunkohlenschniers abstamme, und flochten mir auch keinen Kranz daraus.

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    Ich ertappte mich dabei, daß ich noch immer auf dem Balkon stand und auf Bonn blickte. Ich hielt mich am Geländer fest, mein Knie schmerzte heftig, aber die Mark, die ich runtergeworfen hatte, beunruhigte mich. Ich hätte sie gern wiedergehabt, konnte aber jetzt nicht auf die Straße gehen, Leo mußte jeden Augenblick kommen. Irgendwann mußten sie ja mit ihren Pflaumen, der Schlagsahne und dem Tischgebet fertig sein. Ich konnte die Mark unten auf der Straße nicht entdecken: es war ziemlich tief, und nur in Märchen blinken Geldstücke so deutlich, daß man sie findet. Es war das erstemal, daß ich irgend etwas, was mit Geld zusammenhing, bereute: diese weggeworfene Mark, zwölf Zigaretten, zwei Straßenbahnfahrten, ein Würstchen mit Brot. Ohne Reue, aber mit einer gewissen Wehmut dachte ich an die vielen D-Zug-Zuschläge und Übergänge in die erste Klasse, die wir für niedersächsische Großmütter bezahlt hatten, wehmütig, wie einer an Küsse denkt, die er einem Mädchen gegeben hat, das einen anderen heiratete. Auf Leo war nicht viel Hoffnung zu setzen, er hat merkwürdige Vorstellungen von Geld, ungefähr wie eine Nonne von der »ehelichen Liebe«.

    Nichts blinkte unten auf der Straße, obwohl alles hellerleuchtet war, kein Sternthaler zu sehn; nur Autos, Straßenbahn, Bus und Bonner Bürger. Ich hoffte, daß die Mark auf dem Dach der Straßenbahn liegengeblieben war und irgendeiner im Depot sie finden würde.

    Natürlich konnte ich mich auch an den Busen der evangelischen Kirche schmeißen. Nur: als ich Busen dachte, fröstelte mich. An Luthers Brust hätte ich mich schmeißen können, aber »Busen der evangelischen Kirche« - nein. Wenn ich schon heuchelte, wollte ich mit Erfolg heucheln, möglichst viel Spaß dabei haben. Es würde mir Spaß machen, einen Katholiken zu heucheln, ich würde mich ein halbes Jahr ganz

    predigten zu gehen, bis ich anfing, von Katholons zu wimmeln wie eine schwärende Wunde von Bazillen. Aber damit nahm ich mir eine letzte Chance, in Vaters Gunst zu gelangen und in einem Braunkohlenbüro Verrechnungsschecks zu unterschreiben. Vielleicht würde meine Mutter mich in ihrem Zentralkomitee unterbringen und mir Gelegenheit geben, dort meine Rassentheorien zu vertreten. Ich würde nach Amerika fahren und vor Frauenclubs als lebendes Beispiel der Reue der deutschen Jugend Vorträge halten. Nur, ich hatte nichts zu bereuen, gar nichts, und ich würde also Reue heucheln müssen. Ich konnte ihnen auch erzählen, wie ich Herbert Kalick die Asche vom Tennisplatz ins Gesicht geworfen hatte, wie ich im Schießstandschuppen eingesperrt gewesen war und später vor Gericht gestanden hatte: Vor Kalick, Brühl, Lövenich. Aber wenn ich es erzählte, wars schon geheuchelt. Ich konnte diese Augenblicke nicht beschreiben und sie mir wie einen Orden um den Hals hängen. Jeder trägt die Orden seiner heldenhaften Augenblicke an Hals und Brust. Sich an die Vergangenheit klammern ist Heuchelei, weil kein Mensch die Augenblicke kennt: wie Henriette in ihrem blauen Hut in der Straßenbahn gesessen hatte und weggefahren war, um die heilige deutsche Erde bei Leverkusen gegen die jüdischen Yankees zu verteidigen.

    Nein, die sicherste Heuchelei und die, die mir am meisten Spaß machen würde, war


    »auf die katholische Karte setzen«. Da gewann jede Nummer.


    Ich warf noch einen Blick über die Dächer der Universität hinweg auf die Bäume im Hofgarten: da hinten zwischen Bonn und Godesberg auf den Hängen würde Marie wohnen. Gut. Es war besser, in ihrer Nähe zu sein. Es wäre zu leicht für sie, wenn sie denken konnte, ich wäre dauernd unterwegs. Sie sollte immer damit rechnen, mir zu begegnen, und jedesmal schamrot werden, wenn ihr einfiel, wie unzüchtig und ehebrecherisch ihr Leben verlief, und wenn ich ihr mit ihren Kindern begegnete, und

    sie trügen Regenmäntel, Anoraks

    oder Lodenmäntel; ihre Kinder würden ihr plötzlich nackt vorkommen.


    Es wird geflüstert in der Stadt, gnädige Frau, daß Sie Ihre Kinder nackt umherlaufen lassen. Das geht zu weit. Und Sie haben ein kleines m vergessen, gnädige Frau, an entscheidender Stelle; wenn Sie sagen, daß Sie nur einen Mann lieben - hätten Sie sagen müssen meinen. Es wird auch geflüstert, daß Sie über den dumpfen Groll lächeln, den jeder hier gegen den nährt, den sie den Alten nennen. Sie finden, daß alle ihm auf eine vertrackte Weise ähnlich sind. Schließlich - finden Sie - halten sich alle für so unersetzlich, wie er sich hält, schließlich lesen alle Kriminalromane. Natürlich passen die Umschläge der Kriminalromane nicht in die geschmackvoll eingerichteten Wohnungen. Die Dänen haben vergessen, ihren Stil auf die Umschläge für Kriminalromane auszudehnen. Die Finnen werden so schlau sein und ihre Umschläge den Stühlen, Sesseln, Gläsern und Töpfen anpassen. Sogar bei Blothert liegen Kriminalromane herum, waren nicht schamhaft genug versteckt an jenem Abend, als man das Haus besichtigte.

    Immer im Dunkel, gnädige Frau, in Kinos und Kirchen, in dunklen Wohnzimmern bei Kirchenmusik, die Helligkeit der Tennisplätze scheuend. Viel Geflüster. Die Dreißig-, die Vierzigminuten-Beichten im Münster. Kaum verhohlene Empörung im Blick der Wartenden. Mein Gott, was hat denn die soviel zu beichten: hat den hübschesten, nettesten, fairsten Mann. Richtig anständig. Eine entzückende kleine Tochter, zwei Autos.

    Die gereizte Ungeduld da hinterm Gitter, das endlose Hin- und Hergeflüster über Liebe, Ehe, Pflicht, Liebe und schließlich die Frage: »Nicht einmal Glaubenszweifel - was fehlt Ihnen denn, meine Tochter?«

    Du kannst es nicht aussprechen, nicht einmal denken, was ich weiß. Dir fehlt ein Clown, offizielle Berufsbezeichnung: Komiker, keiner Kirche steuerpflichtig.

    Ich humpelte vom Balkon ins Badezimmer, um mich zu schminken. Es war ein Fehler gewesen, Vater ungeschminkt gegenüberzustehen und gegenüberzusitzen, aber ich hatte mit seinem Besuch ja am wenigsten rechnen können. Leo war immer so erpicht drauf gewesen, meine wahre Meinung, mein wahres Gesicht, mein wahres Ich zu sehen. Er sollte es sehen. Er hatte immer Angst vor meinen »Masken«, vor meiner Spielerei, vor dem, was er »unernst« nannte, wenn ich keine Schminke trug. Mein Schminkkoffer war noch unterwegs zwischen Bochum und Bonn. Als ich im Badezimmer das weiße Wandschränkchen öffnete, war es zu spät. Ich hätte daran denken müssen, welche tödliche Sentimentalität Gegenständen innewohnt. Maries Tuben und Tiegel, Fläschchen und Stifte: es war nichts mehr davon im Schrank, und daß so eindeutig nichts mehr von ihr darin war, war so schlimm, als wenn ich eine Tube oder einen Tiegel von ihr gefunden hätte. Alles weg. Vielleicht war Monika Silvs so barmherzig gewesen, alles einzupacken und wegzutun. Ich blickte mich im Spiegel an: meine Augen waren vollkommen leer, zum erstenmal brauchte ich sie nicht, indem ich mich eine halbe Stunde lang anblickte und Gesichtsgymnastik trieb, zu leeren. Es war das Gesicht eines Selbstmörders, und als ich anfing, mich zu schminken, war mein Gesicht das Gesicht eines Toten. Ich schmierte mir Vaseline übers Gesicht und riß eine halb eingetrocknete Tube weißer Schminke auf, quetschte heraus, was noch drin war, und schminkte mich vollkommen weiß: kein Strich schwarz, kein Tupfer rot, alles weiß, auch die Brauen überschminkt; mein Haar sah darüber wie eine Perücke aus, mein ungeschminkter Mund dunkel, fast blau, die Augen, hellblau wie ein steinerner Himmel, so leer wie die eines Kardinals, der sich nicht eingesteht, daß er den Glauben längst verloren hat. Ich hatte nicht einmal Angst vor mir. Mit diesem Gesicht konnte ich Karriere machen, konnte sogar an der Sache Heuchelei begehen, die mir in all ihrer Hilflosigkeit, in ihrer Dummheit, die relativ

    sympathischste war: die Sache, an die Edgar Wieneken

    glaubte. Diese Sache würde wenigstens nicht schmecken, sie war in ihrer Geschmacklosigkeit die ehrlichste unter den unehrlichen, das kleinste der kleineren Übel. Es gab also außer Schwarz, Dunkelbraun und Blau noch eine Alternative, die Rot zu nennen, wieder zu euphemistisch und zu optimistisch wäre, es war Grau mit einem sanften Schimmer von Morgenrot drin. Eine traurige Farbe für eine traurige Sache, in der vielleicht sogar Platz für einen Clown war, der sich der schlimmsten aller Clownssünden schuldig gemacht hatte: Mitleid zu erregen. Das Schlimme war nur: Edgar konnte ich am allerwenigsten betrügen, ihm am wenigsten etwas vorheucheln. Ich war der einzige Zeuge dafür, daß er die hundert Meter wirklich in 10,1 gelaufen war, und er war einer der wenigen, die mich immer so genommen hatten, wie ich war, denen ich immer so erschienen war, wie ich war. Und er hatte keinen Glauben als den an bestimmte Menschen - die anderen glaubten ja an mehr als an die Menschen: an Gott, an abstraktes Geld, an etwas wie Staat und Deutschland. Edgar nicht. Es war schon schlimm genug für ihn gewesen, als ich damals das Taxi nahm. Es tat mir jetzt leid, ich hätte es ihm erklären müssen, niemand sonst war ich irgendwelche Erklärungen schuldig. Ich ging vom Spiegel weg; es gefiel mir zu gut, was ich dort sah, ich dachte keinen Augenblick daran, daß ich selbst es war, den ich sah. Das war kein Clown mehr, ein Toter, der einen Toten spielte.

    Ich humpelte in unser Schlafzimmer hinüber, das ich noch nicht betreten hatte, aus Angst vor Maries Kleidern. Die meisten Kleider habe ich selbst ihr gekauft, sogar die Änderungen mit den Schneiderinnen besprochen. Sie kann fast alle Farben tragen außer Rot und Schwarz, sie kann sogar Grau tragen, ohne langweilig auszusehen, Rosa steht ihr sehr gut und Grün. Ich könnte in der Branche Damenmode wahr- scheinlich Geld verdienen, aber für einen, der monogam und nicht schwul ist, wäre das eine zu fürchterliche Tortur. Die meisten Männer geben ihren Frauen einfach

    Verrechnungsschecks und empfehlen ihnen, sich dem »Diktat der

    Mode« zu beugen. Wenn dann Violett modern ist, tragen alle diese Frauen, die mit Verrechnungsschecks gefüttert werden, Violett, und wenn dann auf einer Party sämtliche Frauen, die »etwas auf sich halten«, in Violett herumlaufen, sieht das ganze aus wie eine Generalversammlung mühsam zum Leben erweckter weiblicher Bischöfe. Es gibt nur wenige Frauen, denen Violett steht. Marie konnte gut Violett tragen. Als ich noch zu Hause war, kam plötzlich die Sackmode auf, und alle armen Hühner, denen ihre Männer befehlen, sich »repräsentativ« zu kleiden, rannten auf unserem jour fixe in Säcken umher. Ein paar Frauen taten mir so leid - besonders die große, schwere Frau irgendeines der zahllosen Präsidenten -, daß ich am liebsten zu ihr gegangen wäre und irgend etwas - eine Tischdecke oder einen Vorhang - als Mantel der Barmherzigkeit um sie gelegt hätte. Ihr Mann, dieser stupide Hund, merkte nichts, sah nichts, hörte nichts, er hätte seine Frau in einem rosa Nachthemd auf den Markt geschickt, wenn irgendein Schwuler das als Mode diktiert hätte. Am nächsten Tag hielt er vor hundertfünfzig evangelischen Pastoren einen Vortrag über das Wort »Erkennen« in der Ehe. Wahrscheinlich wußte er nicht einmal, daß seine Frau viel zu eckige Knie hat, als daß sie kurze Kleider tragen könnte.

    Ich riß die Tür des Kleiderschranks schnell auf, um dem Spiegel zu entgehen: nichts mehr von Marie im Schrank, nichts mehr, nicht einmal mehr ein Schuhspanner oder ein Gürtel, wie ihn Frauen manchmal hängen lassen. Kaum noch der Geruch ihres Parfüms, sie hätte barmherzig sein, auch meine Kleider mitnehmen, sie verschenken oder verbrennen können, aber meine Sachen hingen noch da: eine grüne Manchesterhose, die ich nie getragen hatte, ein schwarzer Tweedrock, ein paar Krawatten, und drei Paar Schuhe standen unten auf dem Schuhbrett; in den kleinen Schubladen würde ich alles finden, alles: Manschettenknöpfe und die weißen Stäbchen für die Hemdkragen, Socken und

    Taschentücher. Ich hätte es mir denken können: wenn es um Besitz

    geht, werden Christen unerbittlich, gerecht. Ich brauchte die Schubladen gar nicht zu öffnen: was mir gehörte, würde alles da sein, was ihr gehörte, alles weg. Wie barmherzig wäre es gewesen, auch meine Klamotten mitzunehmen, aber hier in unserem Kleiderschrank war es ganz gerecht zugegangen, auf eine tödliche Weise korrekt. Sicher hatte Marie auch Mitleid empfunden, als sie alles, was mich an sie erinnern, würde, wegnahm, und bestimmt hatte sie geweint, jene Tränen, die Frauen in Ehescheidungsfilmen weinen, wenn sie sagen: »Die Zeit mit dir werde ich nie vergessen.«

    Der aufgeräumte, saubere Schrank (irgend jemand war sogar mit dem Staublappen drüber gegangen) war das Schlimmste, was sie mir hinterlassen konnte, ordentlich, getrennt, ihre Sachen von meinen geschieden. Es sah im Schrank aus wie nach einer erfolgreichen Operation. Nichts mehr von ihr, nicht einmal ein abgesprungener Blusenknopf. Ich ließ die Tür offen, um dem Spiegel zu entgehen, humpelte in die Küche zurück, steckte mir die Flasche Kognak in die Rocktasche, ging ins Wohnzimmer und legte mich auf die Couch und zog mein Hosenbein hoch. Das Knie war stark geschwollen, aber der Schmerz ließ nach, sobald ich lag. Es waren noch vier Zigaretten in der Schachtel, ich steckte eine davon an.

    Ich überlegte, was schlimmer gewesen wäre: wenn Marie ihre Kleider hier gelassen hätte, oder so: alles ausgeräumt und sauber und nicht einmal irgendwo ein Zettel:

    »Die Zeit mit dir werde ich nie vergessen.« Vielleicht war es so besser, und doch hätte sie wenigstens einen abgesprungenen Knopf liegen oder einen Gürtel hängen lassen können, oder den ganzen Schrank mitnehmen und verbrennen sollen.


    Als die Nachricht von Henriettes Tod kam, wurde bei uns zu Hause gerade der Tisch gedeckt, Anna hatte Henriettes Serviette, die ihr noch nicht waschreif zu sein schien, in dem gelben Serviettenring auf der Anrichte gelassen, und wir alle blickten

    auf die Serviette, es war etwas Marmelade dran und

    ein kleiner brauner Flecken von Suppe oder Soße. Ich spürte zum erstenmal, wie furchtbar die Gegenstände sind, die einer zurückläßt, wenn er weggeht oder stirbt. Mutter machte tatsächlich einen Versuch zu essen, sicher sollte das bedeuten: Das Leben geht weiter oder etwas ähnliches, aber ich wußte genau: es stimmte nicht, nicht das Leben geht weiter, sondern der Tod. Ich schlug ihr den Suppenlöffel aus der Hand, rannte in den Garten, wieder zurück ins Haus, wo das Gekreische und Geschreie in vollem Gang war. Meine Mutter hatte sich an der heißen Suppe das Gesicht verbrannt. Ich rannte in Henriettes Zimmer hinauf, riß das Fenster auf und warf alles, so wie es mir zwischen die Hände kam, in den Garten hinaus: Schächtelchen und Kleider, Puppen, Hüte, Schuhe, Mützen, und als ich die Schubladen aufriß, fand ich ihre Wäsche und dazwischen merkwürdige kleine Dinge, die ihr bestimmt teuer gewesen waren: getrocknete Ähren, Steine, Blumen, Papierfetzen und ganze Bündel von Briefen, mit rosa Bändern umwickelt. Tennisschuhe, Schläger, Trophäen, wie es mir in die Hände kam, warf ich es raus in den Garten. Leo sagte mir später, ich hätte ausgesehen wie »ein Verrückter«, und es wäre so schnell gegangen, wahnsinnig schnell, daß niemand etwas hätte tun können. Ganze Schubladen kippte ich einfach so über die Fensterbank, rannte in die Garage und trug den schweren Reservetank voll Benzin in den Garten, kippte ihn über das Zeug und steckte es an: alles, was herumlag, stieß ich mit dem Fuß in die hohe Flam- me, suchte alle Fetzen und Stücke, getrocknete Blumen, Ähren und die Briefbündel zusammen und warf sie ins Feuer. Ich lief ins Eßzimmer, nahm die Serviette mit dem Ring von der Anrichte, warf sie ins Feuer! Leo sagte später, das ganze habe keine fünf Minuten gedauert, und bevor einer ahnte, was geschah, brannte die Flamme schon lichterloh, und ich hatte alles reingeworfen. Es tauchte sogar ein amerikanischer Offizier auf, der meinte, ich verbrenne Geheimmaterial, Akten des großdeutschen

    Werwolfs, aber als der kam, war schon alles angesengt, schwarz und häßlich und

    nach einem der Briefbündel greifen wollte, schlug ich ihm auf die Hand und kippte den Rest Benzin, der noch im Kanister war, in die Flamme. Später tauchte sogar die Feuerwehr auf mit lächerlich großen Schläuchen, und im Hintergrund schrie einer mit einer lächerlich hohen Stimme das lächerlichste Kommando, das ich je gehört habe:

    »Wasser Marsch!« und sie schämten sich nicht, diesen armseligen Scheiterhaufen noch mit ihren Schläuchen zu bespritzen, und weil ein Fensterrahmen ein bißchen Feuer gefangen hatte, richtete einer seinen Schlauch darauf, drinnen schwamm alles, und später warf sich der Parkettboden, und Mutter heulte wegen des verdorbenen Bodens und telefonierte mit sämtlichen Versicherungen, um herauszubekommen, ob es Wasserschaden, Feuerschaden war oder unter die Sachversicherung fiel.

    Ich nahm einen Schluck aus der Flasche, steckte sie wieder in die Rocktasche zurück und betastete mein Knie. Wenn ich lag, schmerzte es weniger. Wenn ich vernünftig war, mich konzentrierte, würden Schwellung und Schmerz nachlassen. Ich konnte mir eine leere Apfelsinenkiste besorgen, mich vor den Bahnhof setzen, Guitarre spielen und die Lauretanische Litanei singen. Ich würde - wie zufällig - meinen Hut oder meine Mütze neben mich auf die Stufe legen, und wenn erst einer auf die Idee kam, was reinzuwerfen, würden andere auch den Mut dazu haben. Ich brauchte Geld, schon, weil ich fast keine Zigaretten mehr hatte. Am besten wäre es, einen Groschen und ein paar Fünfpfennigstücke in den Hut reinzulegen. Sicher würde Leo mir wenigstens soviel mitbringen. Ich sah mich schon da sitzen: das weißgeschminkte Gesicht vor der dunklen Bahnhofsfassade, ein blaues Trikot, meine schwarze Tweedjacke und die grüne Manchesterhose, und ich »hub an«, gegen den Straßenlärm anzusingen: Rosa mystica- orapro nobis — turris Davidica- orapro nobis - virgo fidelis - ora pro nobis - ich würde dort sitzen, wenn die Züge aus Rom ankamen und meine coniux infidelis mit ihrem katholischen Mann ankam. Die Trauungszeremonie mußte peinliche

    Überlegungen notwendig gemacht haben: Marie war

    nicht Witwe, sie war nicht geschieden, sie war - das wußte ich nun zufällig genau - nicht mehr Jungfrau. Sommerwild hatte sich die Haare raufen müssen, eine Trauung ohne Schleier verdarb ihm das ganze ästhetische Konzept. Oder hatten sie besondere liturgische Vorschriften für gefallene Mädchen und ehemalige Clownskonkubinen? Was hatte sich der Bischof gedacht, der die Trauung vollzog? Unter einem Bischof würden sie es nicht tun. Marie hatte mich einmal in ein Bischofsamt geschleppt, und das ganze Hin und Her mit Mitra ab- und Mitra, aufsetzen, weißes Band um-, weißes Band ablegen, Bischofsstab dorthin, Bischofsstab hierhin legen, rotes Band um, weißes ablegen, hatte mich sehr beeindruckt, als sensible Künstlernatur habe ich ein Organ für die Ästhetik der Wiederholung.

    Ich dachte auch an meine Schlüsselpantomime. Ich konnte mir Plastilin besorgen, einen Schlüssel hineindrücken, Wasser in die Hohlform gießen und im Eisschrank ein paar Schlüssel backen; es war sicher möglich, eine kleine transportable Kühltruhe zu finden, in der ich mir jeden Abend für, meinen Auftritt die Schlüssel backen würde, die während der Nummer dahinschmelzen sollten. Vielleicht war aus dem Einfall was zu machen, im Augenblick verwarf ich ihn, er war zu kompliziert, machte mich von zu vielen Requisiten und von technischen Zufällen abhängig, und wenn irgendein Bühnenarbeiter im Krieg einmal von einem Rheinländer betrogen worden war, würde er die Kühltruhe öffnen und mir die Schau unmöglich machen. Das andere war besser: mit meinem wahren Gesicht, weißgeschminkt, auf der Bonner Bahnhofstreppe sitzen, die Lauretanische Litanei singen und auf der Guitarre ein paar Akkorde anschlagen. Neben mir der Hut, den ich früher bei Chaplin-Imitationen getragen hatte, mir fehlten nur die Lockmünzen: ein Groschen wäre schon gut, ein Groschen und ein Fünfer besser, am besten aber drei Münzen: ein Groschen, ein Fünfer und ein Zweipfennigstück. Die Leute mußten sehen, daß ich kein religiöser Fanatiker war, der

    eine milde Gabe verabscheute, und sie mußten

    sehen, daß jedes Scherflein, auch ein kupfernes, willkommen war. Später würde ich dann eine silberne Münze dazulegen, es mußte ersichtlich sein, daß größere Gaben nicht nur nicht verschmäht, sondern auch gegeben wurden. Ich würde sogar eine Zigarette in den offenen Hut legen, der Griff zur Zigarettenschachtel fiel den meisten sicher leichter als zum Portemonnaie. Irgendwann würde natürlich einer auftauchen, der Ordnungsprinzipien geltend machte: Lizenz als Straßensänger, oder einer vom Zentralkomitee zur Bekämpfung der Gotteslästerung würde das Religiöse meiner Darbietung angreifbar finden. Für den Fall, daß ich nach Ausweisen gefragt wurde, hätte ich immer ein Brikett neben mir liegen, die Aufschrift »Heiz dir ein mit Schnier« kannte jedes Kind, ich würde mit roter Kreide das schwarze Schnier deutlich unter- streichen, vielleicht ein H. davor malen. Das wäre eine unpraktische, aber unmißverständliche Visitenkarte: Gestatten, Schnier. Und eins konnte mein Vater wirklich für mich tun, es würde ihn nicht einmal etwas kosten. Er konnte mir eine Straßensängerlizenz besorgen. Er brauchte nur den Oberbürgermeister anzurufen, oder ihn, wenn er in der Herren-Union mit ihm Skat spielte, darauf anzusprechen. Das mußte er für mich tun. Dann konnte ich auf der Bahnhofstreppe sitzen und auf den Zug aus Rom warten. Wenn Marie es fertigbrächte, an mir vorüberzugehen, ohne mich zu umarmen, blieb immer noch Selbstmord. Später. Ich zögerte, an Selbstmord zu denken, aus einem Grund, der hochmütig erscheinen mag: ich wollte mich Marie erhalten. Sie konnte sich von Züpfner wieder trennen, dann waren wir in der idealen Besewitz-Situation, sie konnte meine Konkubine bleiben, weil sie kirchlich ja nie mehr von Züpfner geschieden werden konnte. Ich brauchte mich dann nur noch vom Fernsehen entdecken zu lassen, neuen Ruhm zu erwerben, und die Kirche würde sämtliche Augen zudrücken. Mich verlangte ja nicht danach, mit Marie kirchlich getraut zu werden, und sie brauchten nicht einmal ihre ausgeleierte Kanone Heinrich

    den Achten auf mich abzuschießen.

    Ich fühlte mich besser. Das Knie schwoll ab, der Schmerz ließ nach, Kopfschmerz und Melancholie blieben, aber sie sind mir so vertraut wie der Gedanke an den Tod. Ein Künstler hat den Tod immer bei sich, wie ein guter Priester sein Brevier. Ich weiß sogar genau, wie es nach meinem Tod sein wird: die Schniergruft wird mir nicht erspart bleiben. Meine Mutter wird weinen und behaupten, sie sei die einzige ge- wesen, die mich je verstanden hat. Nach meinem Tod wird sie jedermann erzählen,

    »wie unser Hans wirklich war«. Bis zum heutigen Tag und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeiten hinein ist sie fest davon überzeugt, daß ich »sinnlich« und »geldgierig« bin. Sie wird sagen: »Ja, unser Hans, der war begabt, nur leider sehr sinnlich und geldgierig - leider vollkommen undiszipliniert - aber so begabt, begabt.« Sommerwild wird sagen: »Unser guter Schnier, köstlich, köstlich -leider hatte er unausrottbare antiklerikale Ressentiments und keinerlei Gefühl für Metaphysik.« Blothert wird bereuen, daß er mit seiner Todesstrafe nicht früh genug durchgedrungen ist, um mich öffentlich hinrichten zu lassen. Für Fredebeul werde ich »eine unersetzliche Type« sein, »ohne jede soziologische Konsequenz«. Kinkel wird weinen, aufrichtig und heiß, er wird vollkommen erschüttert sein, aber zu spät. Monika Silvs wird schluchzen, als wenn sie meine Witwe wäre, und bereuen, daß sie nicht sofort zu mir gekommen ist und mir das Omelette gemacht hat. Marie wird es einfach nicht glauben, daß ich tot bin — sie wird Züpfner verlassen, von Hotel zu Hotel fahren und nach mir fragen, vergebens.

    Mein Vater wird die Tragik voll auskosten, voller Reue darüber sein, daß er mir nicht wenigstens ein paar Lappen heimlich auf den Garderobekasten legte, als er wegging. Karl und Sabine werden weinen, hemmungslos, auf eine Weise, die allen Teilnehmern am Begräbnis unästhetisch vorkommen wird. Sabine wird heimlich in Karls Manteltasche greifen, weil sie wieder ihr Taschentuch vergessen hat. Edgar

    wird sich verpflichtet fühlen, die Tränen zu unterdrücken, und vielleicht nach der

    Hundertmeterstrecke noch einmal abgehen, allein zum Friedhof zurückgehen und an der Gedächtnisplakette für Henriette einen großen Strauß Rosen niederlegen. Außer mir weiß keiner, daß er in sie verliebt war, keiner weiß, daß die gebündelten Briefe, die ich verbrannte, alle hinten als Absender nur E. W. trugen. Und ich werde ein weiteres Geheimnis mit ins Grab nehmen: daß ich Mutter einmal beobachtete, wie sie im Keller heimlich in ihre Vorratskammer ging, sich eine dicke Scheibe Schinken abschnitt und sie unten aß, stehend, mit den Fingern, hastig, es sah nicht einmal widerwärtig aus, nur überraschend, und ich war eher gerührt als entsetzt. Ich war in den Keller gegangen, um in der Kofferkammer nach alten Tennisbällen zu suchen, verbotenerweise, und als ich ihre Schritte hörte, knipste ich das Licht aus, ich sah, wie sie ein Glas eingemachtes Apfelmus aus dem Regal nahm, das Glas noch einmal absetzte, sah nur die Schneidebewegung ihrer Ellenbogen, und dann stopfte sie sich die zusammengerollte Scheibe Schinken in den Mund. Ich habs nie erzählt und werde es nie erzählen. Unter einer Marmorplatte in der Schniergruft wird mein Geheimnis ruhen. Merkwürdiger- weise mag ich die, von deren Art ich bin: die Menschen.

    Wenn einer von meiner Art stirbt, bin ich traurig. Sogar am Grab meiner Mutter würde ich weinen. Am Grab des alten Derkum konnte ich mich gar nicht fassen; ich schaufelte immer mehr und mehr Erde auf das nackte Holz des Sarges und hörte hinter mir jemanden flüstern, das sei ungehörig - aber ich schaufelte weiter, bis Marie mir die Schuppe aus der Hand nahm. Ich wollte nichts mehr sehen von dem Laden, dem Haus, wollte auch kein Andenken an ihn haben. Nichts. Marie war nüchtern, sie verkaufte den Laden und tat das Geld weg »für unsere Kinder«.

    Ich konnte schon, ohne zu humpeln, in die Diele gehen, meine Guitarre holen. Ich knöpfte die Hülle ab, schob im Wohnzimmer zwei Sessel gegeneinander, zog das Telefon zu mir hin, legte mich wieder und stimmte die Guitarre. Die wenigen Töne

    taten mir wohl. Als ich anfing zu singen, fühl-

    te ich mich fast wohl: mater amabilis - mater admirabilis — das orapro nobis intonierte ich auf der Guitarre. Die Sache gefiel mir. Mit der Guitarre in der Hand, den offenen Hut neben mir, mit meinem wahren Gesicht würde ich auf den Zug aus Rom warten. Mater boni consilii. Marie hatte mir doch gesagt, als ich mit dem Geld von Edgar Wieneken kam, daß wir uns nie, nie mehr trennen würden: »Bis daß der Tod uns scheidet.« Ich war noch nicht tot. Frau Wieneken sagte immer: »Wer singt, lebt noch« und: »Wems schmeckt, der ist noch nicht verloren.« Ich sang und hatte Hunger. Am wenigsten konnte ich mir Marie seßhaft vorstellen: wir waren mitein- ander von Stadt zu Stadt, von Hotel zu Hotel gezogen, und wenn wir irgendwo ein paar Tage blieben, sagte sie immer: »Die offenen Koffer starren mich an wie Mäuler, die gestopft werden wollen«, und wir stopften den Koffern die Mäuler, und wenn ich wo ein paar Wochen bleiben mußte, lief sie durch die Städte wie durch ausgegrabene Städte. Kinos, Kirchen, unseriöse Zeitungen, Mensch-ärgere-dich-nicht. Wollte sie wirklich an dem großen feierlichen Hochamt teilnehmen, wenn Züpfner zum Malteserritter geschlagen wurde, zwischen Kanzlern und Präsidenten, zu Hause mit eigener Hand die Wachsflecken aus dem Ordenshabit bügeln? Geschmackssache, Marie, aber nicht dein Geschmack. Es ist besser, auf einen ungläubigen Clown zu vertrauen, der dich früh genug weckt, damit du pünktlich zur Messe kommst, der dir notfalls ein Taxi zur Kirche spendiert. Mein blaues Trikot brauchst du nie zu waschen.


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    Als das Telefon klingelte, war ich einige Augenblicke verwirrt. Ich hatte mich ganz darauf konzentriert, die Wohnungsklingel nicht zu überhören und Leo die Tür zu öffnen. Ich legte die Guitarre aus der Hand, starrte auf den klingelnden Apparat, nahm den Hörer auf und sagte: »Hallo«.

    »Hans?« sagte Leo.


    »Ja«, sagte ich, »schön, daß du kommst.« Er schwieg, hüstelte, ich hatte seine Stimme nicht sofort erkannt. Er sagte: »Ich habe das Geld für dich.« Das Geld klang seltsam. Leo hat überhaupt seltsame Vorstellungen von Geld. Er ist fast vollkommen bedürfnislos, raucht nicht, trinkt nicht, liest keine Abendzeitungen und geht nur ins Kino, wenn mindestens fünf Personen, denen er vollkommen vertraut, ihm den Film als sehenswert empfohlen haben; das geschieht alle zwei-drei Jahre. Er geht lieber zu Fuß als mit der Bahn zu fahren. Als er das Geld sagte, sank meine Stimmung sofort wieder. Wenn er gesagt hätte, etwas Geld, so hätte ich gewußt, daß es zwei bis drei Mark wären. Ich schluckte an meiner Angst und fragte heiser: »Wieviel?« - »Oh«, sagte er, »sechs Mark und siebzig Pfennige.« Das war für ihn eine Menge, ich glaube, für das, was man persönliche Bedürfnisse nennt, langte das für ihn auf zwei Jahre: hin und wieder eine Bahnsteigkarte, eine Rolle Pfefferminz, ein Groschen für einen Bettler, er brauchte ja nicht einmal Streichhölzer, und wenn er sich einmal eine Schachtel kaufte, um sie für »Vorgesetzte«, denen er Feuer geben mußte, griffbereit zu haben, dann kam er ein Jahr damit aus, und selbst wenn er sie ein Jahr lang mit sich herumtrug, sah sie noch wie neu aus. Natürlich mußte er hin und wieder zum Friseur gehen, aber das nahm er sicher vom »Studienkonto«, das Vater ihm eingerichtet hatte. Früher hatte er manchmal Geld für Konzertkarten ausgegeben, aber meistens

    hatte er von Mutter deren Freikarten bekommen. Reiche Leute bekommen ja viel mehr

    geschenkt als arme, und was sie kaufen müssen, bekommen sie meistens billiger, Mutter hatte einen ganzen Katalog vom Grossisten: ich hätte ihr zugetraut, daß sie sogar Briefmarken billiger bekam. Sechs Mark siebzig - das war für Leo eine respektable Summe. Für mich auch, im Augenblick - aber er wußte wahrscheinlich noch nicht, daß ich - wie wir es zu Hause nannten - »im Moment ohne Einnahmen« war.

    Ich sagte: »Gut, Leo, vielen Dank - bring mir doch eine Schachtel Zigaretten mit, wenn du herkommst.« Ich hörte ihn hüsteln, keine Antwort, und fragte: »Du hörst mich doch? Wie?« Vielleicht war er gekränkt, daß ich mir gleich von seinem Geld Zigaretten mitbringen ließ. »Ja, ja«, sagte er, »nur . . .«er stammelte, stotterte: »Es fällt mir schwer, es dir zu sagen — kommen kann ich nicht.«

    »Was?« rief ich, »du kannst nicht kommen?«


    »Es ist ja schon viertel vor neun«, sagte er, »und ich muß um neun im Haus sein.«


    »Und wenn du zu spät kommst«, sagte ich, »wirst du dann exkommuniziert ?«


    »Ach, laß das doch«, sagte er gekränkt.


    »Kannst du denn nicht um Urlaub oder so etwas bitten?«


    »Nicht um diese Zeit«, sagte er, »das hätte ich mittags machen müssen.«


    »Und wenn du einfach zu spät kommst?«


    »Dann ist eine strenge Adhortation fällig!« sagte er leise.


    »Das klingt nach Garten«, sagte ich, »wenn ich mich meines Lateins noch erinnere.«

    Er lachte ein bißchen. »Eher nach Gartenschere«, sagte er, »es ist ziemlich peinlich.«

    »Na gut«, sagte ich, »ich will dich nicht zwingen, dieses peinliche Verhör auf dich zu nehmen, Leo — aber die Gegenwart eines Menschen würde mir gut tun.«

    »Die Sache ist kompliziert«, sagte er, »du mußt mich verstehen. Eine Adhortation

    muß, kommt es in die Papiere, und ich muß im Scrutinium darüber Rechenschaft geben.«

    »Wo ? « sagte ich, »bitte, sags langsam.« Er seufzte, knurrte ein bißchen und sagte ganz langsam: »Scrutinium«.

    »Verdammt, Leo«, sagte ich, »das klingt ja, als würden Insekten auseinandergenommen. Und › in die Papiere ‹ - das ist ja wie in Annas I. R. 9. Da kam auch alles sofort in die Papiere, wie bei Vorbestraften.«

    »Mein Gott, Hans«, sagte er, »wollen wir uns in den wenigen Minuten über unser Erziehungssystem streiten?«

    »Wenns dir so peinlich ist, dann bitte nicht. Aber es gibt doch sicher Wege - ich meine Umwege, über Mauern klettern oder etwas ähnliches, wie beim I. R. 9. Ich meine, es gibt doch immer Lücken in so strengen Systemen.«

    »Ja«, sagte er, »die gibt es, wie beim Militär, aber ich verabscheue sie. Ich will meinen geraden Weg gehen.«

    »Kannst du nicht meinetwegen deinen Abscheu überwinden und einmal über die Mauer steigen?«

    Er seufzte, und ich konnte mir vorstellen, wie er den Kopf schüttelte. »Hats denn nicht Zeit bis morgen? Ich meine, ich kann die Vorlesung schwänzen und gegen neun bei dir sein. Ist es so dringend? Oder fährst du gleich wieder los ?«

    »Nein«, sagte ich, »ich bleibe eine Zeitlang in Bonn. Gib mir wenigstens Heinrich Behlens Adresse, ich möcht ihn anrufen, und vielleicht kommt er noch rüber, von Köln, oder wo er jetzt sein mag. Ich bin nämlich verletzt, am Knie, ohne Geld, ohne Engagement - und ohne Marie. Allerdings werde ich morgen auch noch verletzt, ohne Geld, ohne Engagement und ohne Marie sein - es ist also nicht dringend. Aber viel- leicht ist Heinrich inzwischen Pastor, hat ein Moped, oder irgend etwas. Hörst du

    noch ?«

    der hundert Jahre lang im Beichtstuhl gesessen und über die Sünden und Torheiten der Menschheit geseufzt hat.

    »Na gut«, sagte er schließlich, mit hörbarer Überwindung, »du weißt also nicht?«


    »Was weiß ich nicht«, rief ich, »mein Gott, Leo, sprich doch deutlich.«


    »Heinrich ist nicht mehr Priester«, sagte er leise.


    »Ich denke, das bleibt man, solange man atmet.«


    »Natürlich«, sagte er, »ich meine, er ist nicht mehr im Amt. Er ist weggegangen, seit Monaten spurlos verschwunden.«

    Er quetschte das alles mühsam aus sich heraus. »Na«, sagte ich, »er wird schon wieder auftauchen«, dann fiel mir etwas ein, und ich fragte: »Ist er allein?«

    »Nein«, sagte Leo streng, »mit einem Mädchen weg.« Es klang, als hätte er gesagt: »Er hat die Pest auf dem Hals.«

    Mir tat das Mädchen leid. Sie war sicherlich katholisch, und es mußte peinlich für sie sein, mit einem ehemaligen Priester jetzt irgendwo in einer Bude zu hocken und die Details des »fleischlichen Verlangens« zu erdulden, herumliegende Wäsche, Unterhosen, Hosenträger, Unterteller mit Zigarettenresten, durchgerissene Kinobillets und beginnende Geldknappheit, und wenn das Mädchen die Treppe hinunterging, um Brot, Zigaretten oder eine Flasche Wein zu holen, machte eine keifende Wirtin die Tür auf, und sie konnte nicht einmal rufen: »Mein Mann ist ein Künstler, ja, ein Künstler.« Mir taten sie beide leid, das Mädchen mehr als Heinrich. Die kirchlichen Behörden waren in einem solchen Fall, wenn es um einen nicht nur unansehnlichen, sogar schwierigen Kaplan ging, sicher streng. Bei einem Typ wie Sommerwild würden sie wahrscheinlich sämtliche Augen zudrücken. Er hatte ja auch keine Haushälterin mit gelblicher Haut an den Beinen, sondern eine hübsche, blühende Person, die er Maddalena nannte, eine ausgezeichnete Köchin, immer gepflegt und

    heiter.

    »Mein Gott«, sagte Leo, »du hast aber eine kaltschnäuzige Art, das hinzunehmen.«


    »Ich bin weder Heinrichs Bischof noch ernsthaft an der Sache interessiert«, sagte ich, »nur die Details machen mir Kummer. Hast du denn wenigstens Edgars Adresse oder Telefonnummer ?«

    »Du meinst Wieneken?«


    »Ja«, sagte ich. »Du erinnerst dich doch noch an Edgar? In Köln habt ihr euch doch bei uns getroffen, und zu Hause spielten wir doch immer bei Wienekens und aßen Kartoffelsalat.«

    »Ja, natürlich«, sagte er, »natürlich erinnere ich mich, aber Wieneken ist gar nicht im Lande, soviel ich weiß. Jemand hat mir erzählt, daß er eine Studienreise macht, mit irgendeiner Kommission, Indien oder Thailand, ich weiß nicht genau.«

    »Bist du sicher?« fragte ich.


    »Ziemlich«, sagte er, »ja, jetzt erinnere ich mich, Heribert hats mir erzählt.«


    »Wer?« schrie ich, »wer hats dir erzählt?«


    Er schwieg, ich hörte ihn nicht einmal mehr seufzen, und ich wußte jetzt, warum er nicht zu mir kommen wollte. »Wer?« schrie ich noch einmal, aber er gab keine Antwort. Er hatte sich auch schon dieses Beichtstuhlhüsteln angewöhnt, das ich manchmal gehört hatte, wenn ich in der Kirche auf Marie wartete. »Es ist besser«, sagte ich leise, »wenn du auch morgen nicht kommst. Es wäre schade um deine versäumte Vorlesung. Sag mir nur noch, daß du auch Marie gesehen hast.«

    Offenbar hatte er wirklich nichts als Seufzen und Hüsteln gelernt. Jetzt seufzte er wieder, tief, unglücklich, lange. »Du brauchst mir nicht zu antworten«, sagte ich,

    »grüß mir nur den netten Kerl, mit dem ich heute zweimal bei euch telefoniert habe.«


    »Strüder?« fragte er leise.


    »Ich weiß nicht, wie er heißt, aber er klang so nett am Telefon.«